Erich Ebensteins »Das Haus des Sonderlings« 1918
von Mirko Schädel
Erich Ebenstein, das ist Annie Hruschka: Das Haus des Sonderlings, Regensburg: Josef Habbel 1918, 223 Seiten
Erich Ebenstein, das ist Annie Hruschka 1867–1929, war eine österreichische Schriftstellerin, die sich um der Chancengleichheit willen gern männliche Pseudonyme zulegte oder ihren Vornamen abkürzte, wie es viele Ihrer Geschlechtsgenossinnen auch taten. Ihr besonderes Verdienst liegt darin, daß sie einen der frühen Serien-Detektive in deutscher Sprache erfand, nämlich Silas Hempel, der vorwiegend in Österreich sein Handwerk betrieb.
Ihre Kriminalromane sind äußerst spannend, obwohl ihre Moralvorstellungen und ihr Weltbild eher bieder geraten sind – und an den prüden Viktorianismus erinnern. Ich bin mir sicher, daß Hruschka die angelsächsischen Klassiker des Genres in ausreichendem Maß studiert hat, aber auch Ihre berühmte Vorgängerin Auguste Groner. Wirklich interessant wird es bei den Krimis, die zwischen den Weltkriegen entstanden sind, denn immer da, wo die Frauenrollen etwas weniger stereotyp gestaltet sind, als gewohnt. Denn im allgemeinen waren die Frauenfiguren dieser Gattung lediglich darauf beschränkt wenn sie nicht ausdrücklich vom Bösen besessen waren, als treusorgende Mütter und liebevolle Gattinnen dargestellt zu werden, die, sobald etwas Mysteriöses oder Tragisches in ihrem Leben geschieht, entweder in Ohnmacht fallen, eine Art Schockstarre, oder einem Nervenfieber erliegen, eine andere Art der Schockstarre, die sie an den Rand des Todes bringen.
Mindestens sind die Frauenfiguren, mit Ausnahme der sogenannten Vamps, allesamt passiv, vollkommen untätig dem Schicksal ausgeliefert bis sie von einem Mann entweder aus dieser Situation befreit werden oder sich selbst hilfesuchend an ein männliches Mitglied der Gesellschaft wenden, der sich für die Damenwelt bereitwillig aufopfert – möglicherweise weil dieser Mann das hilfsbedürftige weibliche Wesen liebt oder weil er ein echter Gentleman ist, der nicht anders kann, als ein Kavalier zu sein.
Aber wie schon erwähnt, interessant ist es, wenn die weibliche Figur dieses lächerliche Schema durchbricht, erst recht dann, wenn das Weltbild der Autorin durchaus konservativ und klischeebehaftet ist. Nicht ohne Grund sind Hruschkas Romane vorwiegend in katholischen Verlagshäusern platziert, denn Gesellschaftskritik oder moralisches Aufbegehren waren ihre Sache nicht. Dennoch gibt sie ihrem Serien-Detektiv hier einen weiblichen Detektiv an die Seite.
In dem Silas Hempel-Roman »Das Haus des Sonderlings« greift die Autorin eben auch auf eine weibliche Detektivin zurück, die selbstverständlich eine liebende Frau ist und ihren Geliebten aus den Klauen einer Intrige befreien will.
Der Roman beginnt in Baden, unweit von Wien, wo Silas Hempel sich offenbar beim Wandern etwas Entspannung verschafft und ganz zufällig in den Sog eines äußerst interessanten Falls gerät. In einem Gasthaus fragt Hempel den Wirt nach der gegenüberliegenden Villa und dessen derzeitigen Besitzer und erfährt, daß der Besitzer namens Torwesten ein Sonderling sei und nur zeitweise mit wenig Personal die Villa bewohne. Ein Sonderling insofern, daß die Landbevölkerung nicht schlau aus dem jungen Herrn wird und nicht viel von ihm weiß, da er sich viel in der Welt herumtreibt.
Noch während Silas Hempel und der Wirt sich unterhalten, schlägt dumpf der Haushund der Villa an, der offenbar im Hause eingesperrt ist – was alle Beteiligten wundert, denn man ging davon aus, daß Herr Torwesten gestern nacht überraschend abgereist sei. Silas Hempel wittert ein Verbrechen und es gelingt ihm den Wirt und dessen Familie davon zu überzeugen der Sache auf den Grund zu gehen.
Tatsächlich verschafft man sich Einlaß in die Villa, alle Räume sind vollkommen unauffällig, nur das Zimmer eines jungen Mannes, eine Art Kammerdiener, ist in großer Unordnung und es finden sich Blutspuren auf dem Bett. Der Hund wurde tatsächlich im Schlafzimmer eingesperrt, was die ganze Sache noch rätselhafter macht.
Silas Hempel geht angesichts der Blutspuren von einem Verbrechen aus und zurück in Wien erfährt er, daß der Chauffeur des Herrn Torwesten tot aufgefunden wurde, und Torwesten selbst offenbar spurlos verschwunden ist.
Kurz darauf läßt sich eine junge Dame bei dem Detektiv melden, die ihren zukünftigen Bräutigam vermißt, einen Handelsreisenden namens Georg Brand. Durch die Beschreibungen der jungen Dame namens Heidy Siebert, die auch eine Fotographie vorzuweisen hat, wird Silas Hempel klar, daß es sich um Herrn Torwesten handelt. Hempel fragt sich nun, welches Motiv Torwesten hatte, seine Identität gegenüber seiner Braut zu verschleiern.
Die Spur führt ins Artisten-Milieu zu einer Tänzerin namens Belle Adisane, eine aalglatte Kurtisane, die sich souverän und selbstbewußt gibt. Hempel bespricht den Fall mit seinem alten Freund Wasmuth, einem Untersuchungsrichter, der sich mit dem Mord an Torwestens Chauffeur auseinandersetzt, aber im Gegensatz zu Hempel der Meinung ist, Torwesten habe seinen Chauffeur ermordet und sich dann abgesetzt.
Wessen Blut auf dem Bett des Kammerdieners Torwestens gefunden wurde, ist weiterhin unklar. Hempel verfolgt diverse Spuren und langsam setzt sich ein unklares Bild der Vorkommnisse in ihm fest. Hempel erfährt, daß die Belle Adisane, jene Tänzerin, die Gattin Torwestens ist, die letzterer aber verstoßen habe nachdem er sie mit einem Artisten in flagranti erwischt habe. Hempel vermutet, Torwesten sollte erpreßt werden, vermutlich habe man ihn entführt und irgendwo festgesetzt um an sein Vermögen zu kommen. Die Brüder der Tänzerin und ihr Vater geraten in Silas Hempels Visier, die sich nämlich alle unter verschiedenen Identitäten incognito in Wien aufhielten und nun abgetaucht seien.
Während Wasmuth die Fahnung gegen Torwesten als vermeintlichen Mörder einleitet, verfolgt Hempel durchaus andere Spuren und trifft sich häufiger mit seiner Auftraggeberin Heidy Siebert, die selbst beginnt im Umfeld Torwestens zu recherchieren. Heidy Siebert erfährt von der gescheiterten aber juristisch unanfechtbaren Ehe ihres Geliebten, doch hält sie an Torwestens Unschuld fest und verstrickt sich immer tiefer in ihre eigenen Nachforschungen.
Nach einem kräftigen Regenguß wird auch eine Leiche in Torwestens Garten der einsamen Villa freigespült, die Leiche nämlich, die den Blutspuren auf dem Bett des Kammerdieners wohl zuzuordnen sind. Der Tote ist der ehemalige Geliebte der Belle Alisande, die ihrerweits behauptet, sie habe sich mit Torwesten versöhnt und wolle nun in das Haus ihres nicht auffindbaren, und wegen Mordes gesuchten Gatten ziehen.
Wasmuth seinerseits glaubt, Torwesten habe seinen ehemaligen Konkurrenten aus Eifersucht in sein Haus gelockt und dort ermordet, was eine gewisse Plausibiblität besitzt. Die Unschuld Torwestens ließe sich nur beweisen, wenn man herausfindet, wo sich letzterer während des Mordes aufgehalten habe, aber Torwesten bleibt vorerst verschwunden – ein mögliches Alibi ebenso.
Die Belle Alisande macht ihre Ankündigung wahr, zieht in die Villa ihres Gatten nahe Baden, und Heidy Siebert nimmt unter einem falschen Namen Kontakt zu der Tänzerin auf und überredet diese ihr Unterricht im Tanzen zu geben. Zu diesem Zweck reist Heidy Siebert nach Baden und mietet sich im Gasthof unweit der Villa ihres Bräutigams ein.
Belle Alisande wird Tag und Nacht observiert, nicht nur von Heidy Siebert, sondern auch ein Geheimpolitzist heftet sich wie ein Schatten an die Tänzerin, denn man hofft eine Spur zu ihren Brüdern, ihrem Vater und ihrem Gatten Torwesten zu stoßen.
Die Tänzerin ist äußerst vorsichtig, wochenlang tut sich gar nichts, doch eines Tages verhält sich die Belle Alisande auffällig, sie schickt ihr Personal, zwei junge Damen, auf Urlaub nach Wien, auch Heidy soll überredet werden nach Wien zu fahren um einer Tanzaufführung zu Lehrzwecken beizuwohnen. Doch Heidy riecht den Braten und schützt einen verstauchten Knöchel vor.
In der Nacht beginnt eine abenteuerliche Verfolgung, die in einen Außenbezirk Wiens führt, wo es Heidy nicht nur gelingt ein heimliches Gespräch zwischen der Tänzerin und einem ihrer Brüder zu erlauschen, sondern auch ihren Geliebten zu befreien, der stark unter dem Einfluß von Morphium steht und vollkommen verwirrt ist.
Der Polizei gelingt es den Vater der Tänzerin und ihre Brüder zu verhaften, am darauf folgenden Vormittag wird auch Torwesten verhaftet, der in Heidy Sieberts Wohnung versteckt war. Dann geht alles sehr schnell, eine Verhandlung wird kurzfristig anberaumt, Wasmuth hält an seiner Theorie fest und hält Torwesten für einen Mörder, den Vater und die Brüder der Belle Alisande für Komplizen, während er sich von dem eiskalten Charme der Tänzerin hat völlig einwickeln lassen – und Silas Hempel? Der ist seit Tagen verschwunden, im Ausland unterwegs, näheres weiß man nicht.
Rechtsanwalt Herrlinger, der Freund und Verteidiger Torwestens ist anfangs recht verzweifelt über die mißliche Lage seines Mandanten, doch dann taucht in letzter Sekunde Hempel mit einem Zeugen auf. Dieser Zeuge ist in der Lage Torwesten ein glaubhaftes Alibi für den ersten Mord zu verschaffen, aber Hempel gibt sich damit nicht zufrieden, sondern klärt die Affäre um Torwesten im Handumdrehen.
Der Vater und die Brüder der Belle Alisande haben den Plan ausgearbeitet und mit Hilfe der Tänzerin ausgeführt. Torwesten sollte unter entsprechendem Drogeneinfluß Papiere unterzeichnen, die sein Vermögen gänzlich seiner Frau und ihrer Familie überschreibt. Danach wollte man Torwesten frei lassen oder ermorden, da war man sich nicht völlig einig.
Insgesamt drei Morde wurden durchgeführt und die Spuren geschickt auf Torwesten gelenkt. Als Hempel auch noch nachweist, daß die Belle Alisande gar nicht die legitime Gattin Torwestens sei, da sie bereits vorher verheiratet war, da platzt der Traum der Tänzerin und ihrer Sippe. Torwesten wird entlassen und heiratet seine Heidy Siebert.
Die Recherchen Heidy Sieberts, die sich als Detektivin betätigt und in Gefahr gebracht hatte, waren entschlossener und handfester als die ihres Auftragnehmers Silas Hempel, der in England und Südfrankreich gefahrlos und recht gemütlich seinen Nachforschungen nachging. So stehen die beiden Detektive gleichwertig nebeneinander – und Heidy Siebert hatte keine Angst sich gesellschaftlich zu diskreditieren, ihr waren die Zeitungsberichte und der Klatsch gleichgültig, denn sie liebt ihren Mann. Hruschka konnte also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, sie schafft eine junge Frauenfigur, die statt in Ohnmacht zu fallen oder dem obligaten Nervenfieber zu erliegen, die Dinge selbst in die Hand nimmt und statt passiv zu leiden und Hilfe zu suchen, sich selbst in Gefahr begibt – aus Liebe…