T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Baronin Elisabeth von Grotthuß: »Wer ist der Schuldige?«, 1890

von Mirko Schädel


 

Baronin Elisabeth von Grotthuß: Wer ist der Schuldige?, Augsburg: B. Schmid’sche Verlagsbuchhandlung 1890, 107 Seiten


Elisabeth Baronin von Grotthuß, 1820–1896, war ein deutschsprachige Dramatikerin und Erzählerin, die in St. Petersburg erzogen wurde und später in Wien lebte. Sie erblindete recht früh, schrieb aber weiterhin zahlreiche Romane und Novellen.

Ich hatte die Baronin schon seit ein paar Jahren auf dem Zettel, denn Titel wie »Wer ist der Schuldige?«, 1890, und »Prof. Sternmayer’s Verbrechen«, 1893, lassen relativ unzweifelhaft an Kriminalnovellen denken, doch hat es zwei, drei Jahre gedauert bis diese Novellen im Antiquariatsbuchhandel auftauchten. Jetzt habe ich die Baronin Grotthuß in meine Datenbank der Kriminalliteratur nachgetragen. Darüberhinaus ist anzunehmen, daß es weitere Kriminalnovellen von Grotthuß gibt, einige ihrer literarischen Werke scheinen auch auf das zwittrige Genre des Sensationsromans zu deuten.

Wer ist der Schuldige?, 1890, ist eine solide, spannende Kriminalnovelle, die von einem blutrünstigen Raubmord in einer kleinen Residenzstadt berichtet. Der Opernsänger Graf beschäftigt den Gärtner Kalan auf seinem Anwesen, die Familie Kalan lebt in einer Hütte auf dem Grundstück Grafs. Kalan, der mit den laxen Erziehungsmethoden seiner Frau und ihrer boshaften Streitlust nicht zurechtkommt, flüchtet sich bei jeder Gelegenheit in den Alkohol. Kalans Sohn Aegyd ist als Schlosser-Lehrling in Norddeutschland beschäftigt und besucht seine Eltern nur zu den Weihnachtstagen.

Der Opernsänger Graf entdeckt gemeinsam mit seinem Hund ein frisch ausgehobenes Grab in seinem Garten, und der zutiefst verängstigte Gärtner Kalan gerät in Mordverdacht. In dem Grab liegt die übel zugerichtete Leiche eines Lehrjungen aus der Stadt, der von seinem Vorgesetzten mit 100 Talern ausgeschickt wurde eine Schuld zu begleichen. Eine 100 Taler-Banknote wird in der Hütte des Gärtners gefunden und beschlagnahmt.

Kalan wird von dem gesetzten Rechtsanwalt Dr. Stanther verteidigt, der seinen Klienten unbedingt für unschuldig hält. Während die Verteidigung einen recht günstigen Verlauf nimmt, wendet sich am dritten, entscheidenden Verhandlungstag das Blatt. Nachdem der Rechtsanwalt Dr. Stanther ein verpfuschtes Plädoyer zum Besten gegeben hat, verurteilt das Gericht Kalan zum Tode. Der Verurteilte räumt nach der Urteilsverkündung seine Schuld an dem Mord ein – während er zuvor beständig seine Unschuld beteuert hatte.

Der Leser ahnt bereits, daß Kalan an dem Verbrechen unschuldig ist – und daß vielmehr der unerzogene und boshafte Sohn, der in Norddeutschland weilt, für den Mord verantwortlich sein muß.

Auch Dr. Stanther vermutet dies, denn kurz nach der Urteilsverkündung verläßt dieser die Residenzstadt und begibt sich offenbar auf die Suche nach dem Mörder. Stanther kehrt nach einiger Zeit unverrichteter Dinge zurück in seine Heimatstadt. Die Hinrichtung steht unmittelbar bevor, und Dr. Stanther ist überzeugt, daß Kalan sich für seinen Sohn zu opfern bereit ist.

In einer von Schneetreiben und Sturm tosenden Nacht erreicht ein völlig demoralisierter Aegyd Kalan die Stadt und eilt zu seiner Mutter, der er seinen Mord gesteht. Er habe von der bevorstehenden Hinrichtung seines Vaters erfahren, und wolle dieses Opfer seines Vaters verhindern. Aegyd möchte sich am Morgen der Polizei stellen und den Mord an seinem Bekannten gestehen – um auch seinen Vater zu retten. Doch Aegyds Mutter stellt die Uhren um und bemüht sich ihren Sohn über das Datum der Hinrichtung zu täuschen. Sie will ihren Sohn nicht verlieren und hofft, daß nach Kalans Hinrichtung, das vermaledeite Opfer ihres Sohnes obsolet wird.

Doch Aegyds Gewissen läßt ihn nicht ruhig schlafen. Als er am frühen Morgen bemerkt, daß die Hinrichtung in wenigen Minuten stattfinden soll, läuft er panisch in Socken durch den Schnee zum Landgericht – es ist jedoch zu spät. Sein Vater wurde vor wenigen Augenblicken guillotiniert. Aegyd bricht mit einer Art Lungenembolie zusammen. Man schafft den jungen Mann in das Haus eines Arztes. Auch Stanther hört von der traurigen Angelegenheit und besucht den Sohn seines Klienten. Dieser räumt den Mord in allen Einzelheiten ein. Nachdem der junge Mann, von Reue erfaßt, einer Verhandlung zugeführt wird, erhält er die Strafe von sechs Jahren Festungshaft für den Totschlag, den er begangen hat.

Es findet auch eine Aussöhnung mit Aegyds Mutter statt, die die Residenzstadt verläßt und sich am Fuße der Festung niederläßt, wo ihr Sohn eingesperrt ist. Dank des katholischen Glaubens sind die reuigen Sünder auf den Weg der Rechtschaffenheit zurückgekehrt. Aegyds Mutter stirbt nach kurzer Zeit. Der junge Mann wird nach einigen Jahren begnadigt, läßt sich als Schlosser in Philadelphia nieder und schickt jedes Jahr Geld an die Mutter seines Opfers. Aber auch Aegyd, der von seiner Krankheit nur oberflächlich geheilt zu sein scheint, stirbt einen frühen Tod. Seine Erbe kommt wiederum der Mutter des Mordopfers zu Gute.

Die Novelle kommt ohne Pathos, Kitsch und andere fragwürdige Methoden aus. Die Erzählperspektive ist handwerklich gut gesetzt, denn der Erzähler ist ein Freund des Rechtsanwalts Dr. Stanther, der so großes Interesse für diesen Fall hegt, und der zeitweise als eine Art Detektiv auftritt. Die tiefgläubige Autorin läßt zwar durchblicken, daß ihr christliches und auf Barmherzigkeit angelegtes Weltbild unumstößlich ist, doch sie enthält sich dankenswerter Weise jedes missionarischen Eifers. Insgesamt ist die Novelle also eine handfeste, solide und interessante Arbeit, die aber alles andere als innovativ oder gar außergewöhnlich ist. Natürlich charakterisiert die Novelle vor allem eine Atmosphäre wilhelminischer Behäbigkeit.