T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Eduard Engel: »Des Lebens Würfelspiel. Novellen«, 1903

von Mirko Schädel



Eduard Engel: Des Lebens Würfelspiel. Novellen, Leipzig: Ernst Keil’s Nachfolger um 1903, 110 Seiten, illustriert von Hanns Anker, Richard Mahn und O. Theuer


Eduard Engel, 1851–1938, war ein deutscher Sprachwissenschaftler, Hochschulprofessor und Schriftsteller, der als assimilierter Jude gleichzeitig kulturell und politisch von deutsch-nationaler, konservativer Gesinnung war. Er begrüßte die Ermordung sozialistischer Führer in Artikeln, ebenso den Beginn des Ersten Weltkriegs und die Machtergreifung der Dorfdeppen 1933. Leider vergaß er offenbar dabei seine jüdische Herkunft, die ihm seine späten Jahre verleidet haben dürfte, denn auch Engel wurde Opfer nationalsozialistischer Repressionen. 

Seine bekanntesten Werke waren »Deutsche Stilkunst«, sowie eine Deutsche Literaturgeschichte, also der typische Blödsinn mit dem sich deutsche Philologen tagein, tagaus beschäftigen. Er studierte Sanskrit sowie klassische und romantische Philologie und verfaßte seine Dissertation in Latein. Im übrigen schrieb Engel um die Jahrhundertwende ein paar wenige Bände mit Novellen. Obgleich seine Ablehnung moderner literarischer Formen groß war, und Eduard Engels politische und literarische Ignoranz legendär gewesen zu sein scheint, war er offenbar ein profunder Kenner der Weltliteratur – und nicht ganz ohne literarischen Geschmack.

Engels 1903 bei Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig erschienener Novellenband Des Lebens Würfelspiel beinhaltet vier Novellen mit den Titeln: Der Vierfingrige, Der erste Schuß, Der Gaukler von Bangkok und Staatsräson, die übrigens gleich von drei unterschiedlichen Künstlern illustriert wurden. Das schmale Bändchen steht im Widerspruch zu dem Bild eines konservativen deutschen Philologen, denn es handelt sich hierbei um eine Sammlung von unterhaltenden Erzählungen, wobei die erste, nämlich Der Vierfingrige, eine glänzende und ungewöhnliche Kriminalerzählung ist.

In der Rückschau erzählt uns der in Paris lebende Bankbeamte Hans Farne seine abenteuerlichen Erlebnisse. Farne wird von seinem älteren Bruder Richard, der als Polizeibeamter in Köln arbeitet, gedrängt die ganze Geschichte seiner Schwägerin zu erzählen – die Geschichte handelt von einem Millionendiebstahl in einem Pariser Bankhaus, in dem Hans noch am Vortag gearbeitet hatte. Als Hans an jenem Morgen zur Arbeit geht, stellt er fest, daß die Bank von Polizeibeamten umlagert wird. Es gelingt ihm jedoch eingelassen zu werden und in seinem Büro findet er seine fristlose Kündigung vor. Sein Arbeitgeber steckt angesichts verfehlter Spekulationen ohnehin in der Klemme, doch die plötzliche Kündigung und die Anwesenheit der zahlreihen Beamten deuten auf eine weitere Unregelmäßigkeit hin. Hans erfährt, daß die Bank in der Nacht ausgeraubt wurde. Der Tresor wurde mit einem Sprengsatz geöffnet, nur das Bargeld wurde geraubt. Der Hund des Wachmanns wurde mit Strychnin vergiftet, und der Wachmann selbst wurde erschossen.

Kollegen von Hans wollen bereits seit Tagen einen auffälligen, glattrasierten Herrn englischen Typs beobachtet haben, der an der linken Hand nur vier Finger besaß, die dieser fortwährend bei seinen Bankbesuchen in schwarze Lederhandschuhe hüllte – und dieser Herr erschien auffallend verdächtig, denn er hatte offensichtlich bei seinen überhaus banalen Bankgeschäften den Verkehr in der Bank ausgekundschaftet. So sucht die Polizei also nach einem Millionendieb mit vier Fingern.

Hans, dem nun nichts anderes übrig bleibt als ins heimische Köln zu reisen, da er ohne Anstellung sich die teure Stadt Paris nicht lange leisten kann, beschließt seine Sachen zu packen und mit der Droschke zum Bahnhof zu fahren. Auf dem Weg zum Bahnhof stößt seine Droschke beinah mit einer anderen zusammen, dabei kann er den unwirschen Insassen des anderen Gefährtes wahrnehmen und prägt sich dessen unfreundliches Gesicht ein.

Im Zug stößt er wieder auf diesen Herrn, dessen Hände er sich genau ansieht, doch stellt Hans an den Händen seines Reisegenossen nichts auffälliges fest. Er teilt sich mit diesem Herrn ein Abteil, doch schon bald wird Hans' Mißtrauen geweckt. Hans stellt sich schlafend und linst durch seine Wimpern hindurch, wobei er sein Gegenüber genau beobachtet. Als sich der fremde Herr unbeobachtet glaubt, beginnt dieser seinen Koffer aus dem Gepäcknetz zu nehmen und diesen zu öffnen. Hans kann nicht genau erkennen, was sich in dem Koffer befindet, doch beobachtet er, daß der Fremde mehrere in Packpapier eingewickelte Pakete unter seinem Sitz versteckt – vermutlich das gestohlene Bargeld aus der Bank, das nun vor den Durchsuchungen der Zoll- und Polizeibehörden verborgen werden soll. Der fremde Herr zieht eines seiner Kleidungsstück aus und stopft es in seinen Koffer.

Darüberhinaus glaubt Hans einen Revolver zu erkennen, den der Passagier unter seinem Mantel verbirgt. Und als er auch noch mitansieht, wie sein Gegenüber einen ledernen Handschuh verliert, der diesem aus der Manteltasche rutscht und der nur über vier Fingerglieder verfügt, ist sich Hans sicher, daß es sich hier um den EInbrecher und Mörder aus Paris handeln muß. Ein Täter, der also nur vortäuscht, daß er an der linken Hand nur vier Finger besitzt.

Hans hatte bereits die Pariser Zeitungen gelesen, wo von einer stattlichen Belohnung berichtet wurde. Einerseits hat Hans Angst vor der Entlarvung und den damit resultierenden Konsequenzen, er weiß, daß sein krimineller Reisegenosse über Leichen geht, andererseits kann er die Belohnung für die Ergreidung des Täters gut gebrauchen. Er denkt darüber nach, wie er den Täter überwältigen könnte ohne sich selbst in Gefahr zu bringen, und so geht die Fahrt weiter durch das nächtliche Frankreich und Belgien.

Hans beschließt eine telegraphische Nachricht an seinen Bruder Richard, ein Polizeibeamter in Köln, abzusetzen während eines kurzen Bahnhofaufenthalts. Nebenbei gibt er sich seinem Mitreisenden als ahnungsloser und unverdächtiger Mensch zu erkennen. Seine Täuschung gelingt abermals und kurz vor der französisch-belgischen Grenze gelingt es ihm das Telegramm abzusetzen – ohne in Verdacht zu geraten. Hans, nun doch ziemlich ermüdet, sinkt in einen tiefen erholsamen Schlaf. Erst kurz vor der deutschen Grenze erwacht er, alles scheint unverdächtig. Er wechselt ein paar beiläufige Worte mit dem Verbrecher. Dann legt er sich abermals auf die Sitze, wobei er seinem Reisegenossen den Rücken zukehrt um ihm die Gelegenheit zu geben unbeobachtet die Beute unter den Sitzen hervorzuholen und sie wiederum in seinem Koffer zu verstauen. Tatsächlich deuten die Geräusche im Abteil darauf hin, daß der Verbrecher genau das tut, was Hans ihm unterstellt.

Die Spannung steigt, und endlich erreichen die beiden Reisenden den Hauptbahnhof in Köln, wo sich Hans von seinem Mitreisenden freundlich am Bahngleis verabschiedet, während er gleichzeizig seinem Bruder, der mit einigen anderen Beamten am Gleis wartet, ein Zeichen sendet. Der Täter wird verhaftet, die Beute sichergestellt.

Die Geschichte hat durchaus Charme und ist sehr gut ausgearbeitet, überaus spannend und betont die eigentümliche Atmosphäre dieser aufregenden und teilweise bedrohlichen Eisenbahnfahrt. Bis zuletzt ahnt der Leser nicht in welche Richtung sich die Story entwickelt – und wie puristisch und schlicht der Kern der Erzählung auch wirken mag, hat der Autor doch mit kargen Mitteln die größtmögliche Spannung erzeugt.