T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

August Braß: »Das Gespenster-Haus. Eine Geister-Geschichte aus Berlin’s Gegenwart«, 1847
von Mirko Schädel



August Braß: Das Gespenster-Haus. Eine Geister-Geschichte aus Berlin’s Gegenwart, Berlin: Louis Quien 1847, 169, 166 S.


Vor der Lektüre dieses Romans hatte ich bereits eine dumme Vorstellung, so glaubte ich, daß das Buch vermutlich ein typischer Kolportageroman seiner Zeit ist, denn ich wußte von August Brass nur, daß er ein paar berlinbezogene Bücher verfaßt hatte und seinen großen Geheimnisroman Die Mysterien von Berlin, 1844/1845.

Doch dieser Roman hier ist kein Kolportageroman, sondern ein wirklich interessantes Kleinod, daß Beachtung verdient. Das Gespenster-Haus ist ein sozialkritischer und in weiten Teilen ironischer Kriminalroman mit eindrucksvollen phantastischen Sequenzen, der die Lebensbedingungen des Berliner Proletariats beleuchtet und mit einigen widerwärtigen, habgierigen Figuren gewürzt ist. Die Konstruktion des Romans ist dem Autor ausgezeichnet gelungen. Das Buch ist in Teilen realistisch, sentimental, empathisch und erinnert an den berühmten Film von Frank Capra It's a Wonderful Life, deutsch: Ist das Leben nicht schön? [1948], mit James Stewart in der Hauptrolle. Tatsächlich trifft der Roman nicht nur den Ton des 100 Jahre später gedrehten Films, auch handelt es sich sowohl bei dem Buch, als auch bei dem Film um ein geradezu dicken’sches Weihnachtsmärchen – denn es werden in diesem Buch  auch Traumsequenzen geschildert, in dem unser verzweifelter Held Gustav Wagner von einem Gespenst zu Menschen geführt wird, deren Schicksal noch graueneregender und trauriger ist, als seine eigene sorgenvolle, von Angst und Schuld getriebene Existenz. Noch etliche andere Parallelen finden sich merkwürdigerweise in diesen beiden Werken. Darüberhinaus ist dieser Roman ein gelungenes Plädoyer gegen Armut und für mehr Empathie und Mitmenschlichkeit.

Der redliche Kaufmann Wagner hatte in seiner rheinischen Heimat bankrott gemacht, und beging den Fehler seine Gläubiger zu befriedrigen, so daß er zwar seine Ehre rettete, aber sein gesamtes Vermögen verlor. Er, seine Frau Fanny und seine dreijährige Tochter sind fast mittellos nach Berlin verzogen, wo Wagner vergeblich nach einer Stelle Ausschau hält. Die kleine Familie wohnt in einem Mietshaus unter dem Dach, und in diesem Haus spukt es. Die vormalige Besitzerin und Vermieterin geht im Hause bei säumigen Mietern um und erinnert diese an ihre Verpflichtungen und raubt ihnen den Schlaf. Sie ist verdammt worden, da sie mitleidslos ihre Mieter im eisigen Winter vor die Tür setzte und keine Untat scheute sich dieser armen Menschen zu entledigen. Sie wird erst dann von ihrem Gespensterdasein erlöst werden, wenn der gegenwärtige Besitzer des Hauses einmal Nachsicht üben sollte und einem Mieter den säumigen Zins erläßt.

Ein Onkel von Wagner namens Kobleth verfügt über ein gehöriges Einkommen, ist aber ein von Habgier getriebener Geizhals und Wucherer von dem sein Neffe nichts zu erwarten hat. Wagner leiht sich nun etwas Geld bei einem Herrn Grabbs, ein ebensolcher Wucherer und Geizhals wie Kobleth, nur ahnt Wagner nicht, daß die beiden Geizhälse alte Freunde sind und sich gegenseitig zu Universalerben gemacht hatten.

Als Grabbs unerwartet stirbt – er hatte sich am Fensterkreuz aufgehängt – wird Onkel Kobleth nun unfreiwillig der Gläubiger seines Neffen. Wagner schickt seine Frau Fanny zu seinem Onkel um eine Abschlagszahlung zu leisten und zu erklären, daß er sich bemühen werde die Schuld weiter zu tilgen, nur solle der Onkel etwas Geduld haben. Doch Fanny Wagner macht in Kobleths Bureau Eindruck auf einen Geschäftsfreund des Onkels, einem Herrn Baron, der offenbar ein Wollüstling ist und auf die Idee kommt Wagners Schuldschein Kobleth abzukaufen, wohl in der Absicht sich in der Folge an der jungen Frau Wagner sexuell zu vergreifen. Kobleth, der dieses Vorhaben durchschaut, aber dennoch ein gutes Geschäft wittert und kein Gewissen hat, trennt sich gegen vier Louidor von dem Schuldschein seines Neffen.

Derweil Wagner, der sich ständig erfolglos um Arbeit bemüht, in der Stadt unterwegs ist und einen Agenten aufsucht, der ihn seit Wochen mit einem Arbeitsversprechen hinhält. Als er sich diesen Betrüger zur Brust nehmen will, betritt jener Herr Baron das Kontor und fragt nach einem Schreiber, der bei ihm in Dienst treten solle. Wagner, der dies Gespräch hört, spricht den Baron direkt persönlich an und erhält den Job.

Doch als Wagner anderntags die Stelle antreten will, stellt sich heraus, daß der gute Herr Baron sein neuer Gläubiger ist. Der Baron schüttet sich aus vor Lachen und gibt Wagner zu erkennen, daß seine junge Frau zu ihm kommen solle um über die Tilgung zu verhandeln. Da der Baron in auffälliger Weise auf den Besuch von Fanny besteht, erkennt Wagner, welchen Plan der Baron gefaßt hat und schlägt diesen nieder. 

Fanny, die bei Kobleth nachfragen soll, wieso es keinen Zahlungsaufschub mehr geben könne, denn am Morgen war bereits der Gerichtsvollzieher bei ihr, wird kurz darauf von ihrem tobenden Mann aus dem Kontor Kobleths gezerrt, nicht ohne daß der Neffe seinem Onkel die übelsten und berechtigsten Beschimpfungen und Vorwürfe an den Kopf wirft.

Der einzige Freund der Familie Wagner ist ein armer Kriegsinvalide, der einbeinige Drehorgelspieler Stopper, dem die in zunehmend bittere Armut geratene Familie Wagner immer wieder rührend unterstützt hat. Von der Leichenwäscherin Fräulein Meier und Grabbs ehemaliger Haushälterin Madame Bader erfährt der alte Stopper von einem furchtbaren Verdacht. Der alte Kobleth soll möglicherweise seinen alten Freund Grabbs getötet haben, denn Fräulein Meier hat in ihrer Eigenschaft als Leichenwäscherin in der geschlossenen Faust des vermeintlichen Selbstmörders einen Knopf mit einem blauen Tuchfetzen gefunden – und vermutet nun, daß ein Selbstmörder wohl kaum einen Knopf in der Hand hätte, während er sich am Fensterkreuz aufknüpft. Auch Madame Bader, die alte Haushälterin Grabbs, schließt sich diesem Verdacht an, da der einzige Mensch, der vom Tode Grabbs profitiert, eben der gewissenlose Kobleth sei.

Stopper erzählt Wagner von diesem Verdacht der zwei Damen, dieser aber liegt nach seinem Tobsuchtsanfall mit Fieber auf einem Haufen Lumpen und glaubt nicht, daß sein Onkel zu diesem Verbrechen fähig sei. Aber Wagner träumt einen langen, unfassbaren Traum, wo auch sein Onkel Kobleth im Gefängnis zu sehen ist, und viele andere von Gott verlassene Kreaturen. Wagner träumt außerdem, daß er auf der Landstraße einen Mann ersticht, da er befürchtet daß Fanny und seine Tochter verhungern müßten, wenn er nicht ein Verbrechen begeht. Glücklicherweise wird Wagner am nächsten Morgen wach, und erkennt, daß er alles nur geträumt habe und sein Verbrechen nicht stattgefunden hatte.

Während das Elend in der Familie Wagner weiter um sich greift, beschließen der Baron und Kobleth ein Komplott um sich an Wagner zu rächen und ihn ins Gefängnis zu bringen. Dazu bedienen sie sich eines Kaufmanns namens Piper, der Wagner in seinem Kontor als Schreiber anstellen soll – um dann einen Diebstahl zu fingieren, der Wagner als überführten Verbrecher hinter Gittern bringen soll.

Der Plan Kobleths gelingt, und Gustav Wagner wird verhaftet. Währenddessen kümmern sich der alte Stopper, Madame Bader und Fräulein Meier rührend um das Wohlergehen der verzweifelten Fanny und ihrer Tochter. Der Heiligabend rückt näher, und als Fanny mit ihrer Tochter nachts unweit des Gefängnisses auf die Fenster des Gebäudes schaut und an ihren unschuldig inhaftierten Mann denkt, begegnet sie während des Heimwegs den Weihnachtsmarkt querend zufällig Herrn Staaks, der auch bessere Tage gesehen hatte, denn er war noch vor kurzem als Schreiber bei Kobleth angestellt und wurde von diesem gerade vor die Tür gesetzt.

Als Fanny diesem Herrn Staaks von der Inhaftierung ihres Mannes und dessen Arbeit bei jenem Kaufmann berichtet, geht Staaks ein Licht auf und behauptet, daß Kobleth wohl mit jenem Kaufmann Piper ein Komplott geschmiedet habe um ihren Gatten hinter Gitter zu bringen. Staaks kennt seinen ehemaligen Arbeitgeber ziemlich genau und war auch von dem geheimniskrämernden Umgang zwischen Kobleth und dem Kaufmann Piper informiert. Fannys Vertrauen zu Staaks wächst merklich, so daß sie ihm auch noch von dem Verdacht der beiden alten Damen erzählt, daß nämlich Kobleth möglicherweise seinen Freund Graabs ermordet habe und von jenem rätselhaften Knopf in der Faust des Toten.

Staaks sieht seine Chance gekommen sich aufgrund seines Rauswurfs an Kobleth zu rächen. Er verabschiedet sich höflich bei Fanny und erklärt ihr, er werde in einigen Tagen wieder bei ihr erscheinen, sie solle noch etwas Geduld haben – er werde sich der Sache annehmen.

Als der Heiligabend anbricht, schmeißt sich Stopper in seine beste Galauniform und erklärt Fanny, sie alle seien bei Frau Meier zum Karpfenessen eingeladen. Am frühen Abend macht sich die kleine Gesellschaft auf, und ein reizendes Weihnachtsfest wartet ihrer. Fanny bekommt von den beiden Damen eine Quittung ihres Vermieters geschenkt, der ihr damit die Mietschuld für das vergangene Quartal erläßt. – Damit wird auch das Gespenst erlöst, daß sich auch in der Wohnung der Familie Wagner gezeigt hatte – und besonders dem alten Stopper zugetan war, denn das Gespenst wohnte in einem alten Kleiderschrank in Stoppers Dachstube und hatte zeitlebens ein Faible für Männer in Uniform.

Während dieser Episode ist Kobleth und der beteiligte Handlanger bereits in Haft gesetzt worden, gegen Abend trennt sich der Mörder Kobleth seine Halsschlagader auf und stirbt. Kobleth hatte den Mord an seinem einzigen Freund akribisch geplant und durchgeführt. Bereits Monate vor der Tat ließ er Nachschlüssel anfertigen, denn das Mordzimmer war ein von innen verschlossener Raum. Doch Kobleth rechnete nicht damit, daß sein betrunkener Freund im Todeskampf, nämlich als Kobleth ihn unsanft erdrosselte, ihm einen Knopf und ein daranhängenden Tuchzipfel vom Mantel riß. Dieser Knopf, das wußte Kobleth, reicht nicht für eine Verurteilung aus, aber als die Kirchglocken am Heiligabend läuten, während er in seiner Zelle sich seiner unschuldigen Kindheit erinnert, wird ihm klar, daß sich sein seit Jahrzehnten verloren geglaubtes Gewissen meldet, und so trifft er die Entscheidung sich aller Verantwortung zu entziehen und dem Urteil seiner Richter vorzugreifen.

Noch im Verlauf des Abends taucht Herr Staaks bei Fräulein Baders Weihnachtsfest auf, mit einem Gast im Schlepptau – Gustav Wagner, der aus der Haft entlassene und unschuldige Gatte Fannys. Nun, da Kobleth sich selbst in der Zelle gerichtet hatte, avanciert sein Neffe Gustav Wagner zum Alleinerben des alten Verbrechers und Wucherers. Doch seine Frau Fanny sorgt dafür, daß das Vermögen zu einem Großteil zur Linderung der Armut in der Nachbarschaft Verwendung findet.

Natürlich hat Capras Film nichts, aber auch gar nichts mit diesem Roman gemein, und doch gleichen sich diese beiden Weihnachtsmärchen in so vielen Punkten, das einem gespenstisch zumute wird. Der Ton und die sprachlichen Mittel des Autors sind eindeutig unter dem Einfluß der Lektüre von Charles Dickens entstanden. Die sentimentalen Episoden sind nicht kitschig, im Gegenteil, der Autor weiß mit seinen Mitteln durchaus sparsam umzugehen und obwohl er nicht an sein Vorbild heranreicht – wie könnte er auch – erweist er sich doch als gelehriger Schüler des britischen Meisters und hat eine zufriedenstellende Leistung erbracht. Seine Hauptfiguren sind etwas bläßlich, während seine Nebenfiguren durch ihre Originalität punkten, wie Stopper und die beiden Damen Meyer und Bader.

Auch der Humor kommt nicht zu kurz, insbesondere die Gespräche zwischen dem Gespenst und Stopper geben Aufschluß über einen etwas spätbiedermeierlichen, behäbigen Humor. Doch der Glanzpunkt des Romans steckt in der langen Traumsequenz, in der Gustav Wagner von einem Gespenst zu verschiedenen Schicksalen, auch zu im Sterbeprozeß befindliche Menschen, geführt wird und ihm aufgezeigt wird, wie sich das Lebensende des Einzelnen mit dem vorherigen Lebenswandel und dem Gewissen verträgt.