T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

»Das verkaufte Skelett« von Dr. Hermann Schiff, 1866
von Mirko Schädel



Dr. Hermann Schiff: Das verkaufte Skelett. Novelle, Hamburg: Jean Paul Friedrich Eugen Richter 1866,
Israelitische Novellen Band 1, 123 Seiten; im Anhang: Corolian 1: Carl Gutzkow’s jüngste Tat, 60 Seiten


Hermann Schiff, geboren als David Bär Schiff in Hamburg, 1801–1867, war ein Schriftsteller und Neffe Heinrich Heines, er veröffentlichte seine Arbeiten meist bei den Hamburger Verlagen Hoffmann & Campe und bei Jean Paul Friedrich Eugen Richter.



»Das verkaufte Skelett« ist eine märchenhafte Groteske, voll von phantastischen Versatzstücken, bizarren, makabren und satirischen Einfällen. Die Einführung Schiffs zu dieser Novelle ist ein Jammertal seiner Erfolglosigkeit. Zu den Gründen dieser Erfolglosigkeit zählt der Autor auch, ob berechtigt oder nicht, diverse Zeitereignisse, wie der Hamburger Brand 1842 oder die Cholera, die 1832 wütete – und sein vielversprechendes Theaterstück Agnes Bernauer zum Mißerfolg stempelte. Schiff beweist darin große Phantasie, die äußeren Umstände für seine Erfolglosigkeit verantwortlich zu machen, und diese Begründung entbehrt nicht einer gewissen Plausibilität und Komik.
Intelligenz beweist der Autor ebenso, indem er »Zigeunerorakel« und »Erbflüche« beiseite läßt und zum Erstaunen des Lesers anerkennt, daß seine Stoffe ohnehin nicht dem Massengeschmack entsprechen – »Ich habe stets getrachtet, mir selbst zu genügen ohne nach dem Beifall der Menge zu geizen.« Schiff ist ohnehin gespalten in seiner ästhetischen Existenz als Schriftsteller, sein Selbstverständnis ist gespalten zwischen Romantik und Aufklärung, die Grautöne gibt es bei ihm nicht, und er wackelt förmlich hin und her zwischen den Extremen.

Die Geschichte beginnt mit der Vorstellung des Professor Sturmöller, ein epikuräischer Geist, der gern Gäste um sich schart. In diesem Fall sind es eine Horde seiner Studenten, denen er von seiner Freundschaft zu dem Rabbi von Andernach berichtet, die vor 25 Jahren, 1797, abrupt mit dem Ableben des Rabbi endete. Prof. Sturmöller, damals noch ein Schulknabe, hatte sich aufgrund seiner Leidenschaft für das Schachspiel mit dem wesentlich älteren Rabbi angefreundet. Das Schachspiel knüpfte sie aneinander. Der Rabbi, ein mißgestalteter Mann mit viel zu großem Kopf und riesigen Elefantenaugen, einem verjüngenden Rumpf und kläglichen, dürren Beinchen, spielt im Schachklub Andernach – ein Turnier wurde ausrichtet, wo auch Mitglieder des Hamburger Schachklubs eingeladen wurden, so auch der junge Sturmöller.

Sehr schnell wird klar, daß der 16jährige Knabe Sturmöller es mit dem Rabbi im Schachspiel aufnehmen kann. Die erste Partie geht an Sturmöller, die Revanche wird von dem Rabbi erfolgreich zu Ende geführt. Die beiden verabreden sich für den nächsten Abend, und es kommt zu einem Remis. Der Rabbi schlägt dem Knaben eine letzte alles entscheidende Partie vor. Die beiden sind allein in den Räumen des Schachklubs, nur die Kellner huschen gelegentlich durch den Gastraum. Die Partie schleppt sich dahin, am Zug ist der Rabbi, doch nach endlosen fünf Minuten, die sich der Rabbi nicht gerührt hat, spricht der junge Sturmöller diesen an. Der Rabbi erhebt sich, kollabiert und bricht unter entsetzlichem Blöken zusammen. Das Schachbrett stürzt dabei zu Boden, und Sturmöller findet sich von Fieberwahn und Alpträumen gehetzt auf einem Krankenlager wieder – verfolgt von schrecklichen Visionen des sterbenden Rabbi.

Der gute Professor Sturmöller, der seinen jungen Gästen von dieser schrecklichen Geschichte erzählt, entschuldigt sich für dieses ihm tatsächlich wiederfahrene Schreckensszenario und doziert etwas schwammig über Vernunft und Wahnsinn, doch er als Gelehrter sei vor dem Wahnsinn gefeit.

Doch ein paar Tage später am hellichten Tag gegen Mittag erscheint tatsächlich das Gespenst des Rabbi von Andernach im Hause Sturmöllers – wenngleich schnell klar wird, daß es sich nur um ein lebendiges Abbild desselben handelt, nämlich dessen Sohn Menasse Cohen von Andernach, der die alten, aber zähen Kleider seines vor 25 Jahren verstorbenen Vaters aufträgt und in die Stadt gekommen ist, um Medizin zu studieren, und den väterlichen Beistand Professor Sturmöllers sucht. Nach einigem hin und her entschließt sich Sturmöller, sich des jungen Juden anzunehmen – nicht ganz uneigennützig, denn Sturmöller, der von diesem  Ereignis in seiner Jugend traumatisiert ist und vor dem Gespenst des Rabbi wohl Angst zu haben glaubt, hofft, daß Menasse, das genaue Ebenbild seines Vaters, eine heilsame Wirkung auf Sturmöllers Gemüt haben wird.

Sturmöller, der sich mit Eifer der Anatomie hingibt, ließ die ärmsten und erbärmlichsten Bettler-gestalten der Stadt kommen, um ihnen ein anständiges, tägliches Almosen zu geben, im Gegenzug für diese Wohltaten hofft Sturmöller von den Verelendeten nach ihrem Ableben ihre Kadaver zu erhalten – um diese für seine wissenschaftlichen Studien zu verwerten.

Doch der Bettlerstolz ist bedeutender als Sturmöller vermutet, und so landet sein Anerbieten als beißender Kommentar in der Zeitung, in der Absicht Stimmung gegen diese unchristliche Sitte zu machen. »In neuester Zeit war viel die Rede von einem höchst schauderhaften Verbrechen. Es heißt ›Burken‹, nach seinem scheußlichen Urheber und Erfinder, namens Burke. Statt Leichen zu stehlen, macht man Leichen. Das heißt: lockt an, was sich verwerthen läßt, betäubt es mittels narkotischer Getränke, wirft es ins Wasser, bis es sich zu Tode gezappelt, oder erstickt es auf andere Weise.«

Die sensationslüsterne Presse erfährt von Sturmöllers Anerbieten und greift dieses auf, bezieht sich dabei explizit auf Professor Sturmöller, dessen Freunde sich irritiert von ihm abwenden. Die Hatz der Presse wird fortgesetzt und die Anspielungen auf Sturmöllers Hunger nach Leichen nehmen kein Ende. Prof. Sturmöller bittet Menasse, der ein intellektuell anspruchsvoller Kopf ist, um Hilfe, er möge seinem Förderer zur Seite springen und selbst einen Artikel verfassen, doch Menasse entgegnet: »Wie darf ich das? […] Auch darf der Jude nicht vorlaut sein, um nicht bei der heutigen christlich-germanischen Volksstimmung Judenhaß und Verfolgung herauszufordern. […]«

Dann verschwinden in der Stadt zwei junge Mädchen, Gerüchten zufolge hat Sturmöller die beiden Kinder beiseite geschafft, um sich Leichen für die Pathologie zu verschaffen. Der Volkszorn wird angefacht, der Bürgermeister rät Prof. Sturmöller auf der Hut zu sein – seltsame Parallelen stellen sich ein, man meint, die Verschwörungstheoretiker und andere halbgare Populisten hat es auch damals schon gegeben. Diese Mischung aus Ressentiments, Haß, geistiger Verwahrlosung, und eklatanten Bildungsdefiziten gab es damals also ebenso wie heute – trotz unserer schönen, neuen Medien, die wohl nicht so sehr der Aufklärung verpflichtet sind als der Verwirrung, der Hetze und letztendlich dem Haß.

Sturmöllers Reaktion auf diese Hatz ist recht klug, er richtet ein rauschendes Fest aus, zu dem er die Honoratioren der Stadt bittet, die auch eifrig kommen – um so der Hatz ein wenig Wind aus den Segeln zu nehmen.

Doch bald verschwindet ein drittes Mädchen. »Wo der Menschenverstand am Rande ist, da muß der Aberglaube aushelfen, und die Sage von den Wehrwölfen wurde aus ihrem mittelalterlichem Schlafe wachgerüttelt. Die Menge schenkte ihr Beifall und Glauben.« Des Autors Umschreibung läßt sich mühelos auch auf die heutigen politischen Zustände weltweit übertragen. 

Menasse findet in einem astrologischen Kalender aus dem Jahre 1616 folgende Gedanken eines ehemals berühmten Hexenverfolgers namens Davides Pompejus Klotzius:
»Gewissen Menschen wird aus Verhängniß Gottes und zur Strafe ihrer Sünden der höllische Zwang angethan, sich von Zeit zu Zeit in Wehrwölfe zu verwandeln, dermaßen, daß sie bei nächtlicher Weile nicht nur ihre menschliche Gestalt verlieren, sondern auch das viehische Wesen und den Raubthierhunger dieser Ungeheuer annehmen. Doch stellen sie nicht den Ziegen und Lämmern nach, vielmehr lechzen sie nach Menschenfleisch und lieben am meisten das Blut unschuldiger Jugend. Es gibt zweierlei Wehrwölfe, männliche und weibliche. Die männlichen verschlingen halbreife Mädchen, die weiblichen halbreife Knaben. – […] Weder Wehrwolf noch Wehrwölfin haben eine Ahnung von ihrer satanischen Begabung. Nur zur mitternächtlichen Stunde tut sich die große Macht der Hölle an ihnen kund. Allein der Wehrwolf kann sich selbst erkennen; denn ein einziges, in seiner Wehrwolfs-Unbewußtheit verschlungenes Kind sättigt ihn auf mehrere Wochen, sodaß warme Speisen, gekochtes oder gebratenes Fleisch ihn anwidern, ohne daß er sich anderweitig unwohl fühlt.«

Wohl um Zeit zu gewinnen für die polizeiliche Aufklärungsarbeit, und um den Verdacht gegen Pro-fessor Sturmöller gänzlich aus der Welt zu schaffen, bittet Menasse den Bürgermeister diesen Text nebst einiger Anmerkungen von ihm selbst in der Zeitung abdrucken zu lassen, was ihm auch gewährt wird.

Menasse erhält am folgenden Tag die Einladung eines reichen Viehhändlers zu einem opulenten Gastmahl im Wirtshaus. Man will den verwachsenen Juden auf die Probe stellen, doch während sich draußen das gemeine Volk in Stellung bringt, um Menasse als enttarnten Werwolf auszulöschen, beweist Menasse durch den Verzehr gehöriger Quantitäten Schweinebratens, daß er derjenige nicht sein könne, den man in ihm vermutet – und so zerstreut sich das Volk wieder, ohne handgreiflich geworden zu sein.

Ein weiteres Mädchen verschwindet, daß, begleitet von ihrem Hund, Kräuter gepflückt hatte und nicht nach Hause zurückgekehrt war. Doch der Hund Tyras, der dem Verbrechen entkommen konnte, führt den Vater zum Ort der Tat und zur Leiche seiner verschwundenen Tochter. Zufällig wird später auch der Hund Tyras, ein Neufundländer, den Mörder aufspüren, der sich im Gasthaus vollaufen läßt – und den ihn merkwürdig fixierenden Hund mit einem Stück Fleisch zu bestechen sucht, das der Hund aber ignoriert und somit die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich lenkt.

Die folgenden Passagen erzählen von dem Kinderleichenzug, den Menasse mit ausrichtet und bei dem die nunmehr aufgefundenen Opfer des Mädchenmörders bestattet werden, es folgen Szenen über den Mörder, der zum Tode verurteilt und dem während der Hinrichtung von Menasse der Blutdruck gemessen wird, da Prof. Sturmöller ihn aus wissenschaftlichem Interesse darum gebeten hat.

Währenddessen taucht ein Fremder in der Stadt auf, der Menasse das Angebot macht, nach dessen Ableben sein Skelett dem osteologischen Museum in London zu vermachen. Der Fremde, ein englischer Naturforscher, findet Gefallen an dem Mißwuchs Menasses, dem er ein kleines Vermögen für den Verkauf seines Skeletts in Aussicht stellt. Menasse geht auf den Handel ein.

Die Leiche des hingerichteten Kindermörders wird in das Haus Prof. Sturmöllers gebracht, Sturmöller hat die Absicht den Geköpften zu sezieren. In dieser Nacht befindet sich eine kleine Gesellschaft im Haus des Professors, Studenten, die Sturmöller zum Abendessen gebeten hatte. Auch Menasse ist anwesend, aber dieser bereitet sich auf den Todestag seines Vaters vor, des Rabbi von Andernach, der um Mitternacht sich jährt. Nur der Gastgeber ist noch auf einem Krankenbesuch, man erwartet ihn jederzeit zurück.

Die Studenten und Menasse planen eine Posse aufzuführen. Prof. Sturmöller kehrt spät in der Nacht von der Visite zurück, kurz darauf um Mitternacht tritt Menasse in den Kleidern seines toten Vaters auf und spricht auch in dessen rheinischem Dialekt. Die Haushälterin ist zutiefst erschrocken, Sturmöller glaubt das Gespenst des Rabbi Andernach vor sich zu sehen und wirft in seiner Aufregung ein Tintenfaß nebst anderen Utensilien nach dem Gespenst. Menasse sackt zusammen, ein Gegenstand hat seine Schläfe getroffen. und er ist sofort tot.

Prof. Sturmöller ist untröstlich, er bittet die Studenten die Polizei zu benachrichtigen – nun liegen die Leichen des Mächenmörders und Menasses in Sturmöllers Keller. Der Professor zieht sich zurück in sein Zimmer, als jedoch die Polizei eintrifft ist Sturmöllers Leben bereits in den letzten Zügen, er hat sich vergiftet. Sein Testament gibt Auskunft darüber, daß er die vier Schwestern Menasses zu seinen Haupterben erkoren hat. So will er sein unfreiwilliges Verbrechen etwas abmildern.

Passagen der Novelle sind aus dem Werkzeugkasten der Kolportage, doch gelingt es Schiff immer wieder erstaunliche Bezüge zur Realität herzustellen und mit einem beißenden, makabren Humor zu würzen, der nicht von jedem verstanden wird. Die Novelle scheint nicht durchdacht oder konstruiert worden zu sein, sondern ist das Ergebnis eines Schreibprozesses, wo das eine zum anderen führt. Man kann den Text pauschal als mißglückte Unterhaltung oder einen Bastard diverser Genres abtun, aber wird damit der kulturhistorischen Bedeutung nicht gerecht. Die Surrealisten hätten zumindest  Freude an dieser Novelle gehabt.

Interessant ist diese Novelle nicht zuletzt deshalb, weil die »Skizzen aus der Anatomie« von J. E. Poritzky hiermit einen würdigen Vorläufer haben, der, davon bin ich zumindest überzeugt, von Poritzky zur Kenntnis genommen wurde. Die Ideen und Facetten dieser Novelle sind derart vielfältig und überschwenglich, daß eine Nacherzählung diesem Text nicht gerecht werden kann.