T O D S P A N N U N G

 Raum für phantastische und serielle Spannungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts von Robert N. Bloch und Mirko Schädel

Alexander Grin (UdSSR/Russland) 1880–1932
Exotist und Magier von Traum-Existenzen
von Robert N. Bloch


















Alexander Grin 1880–1932



Wie Michail Bulgakow gehört auch sein Zeitgenosse Alexander Stepanowitsch Grinewski zu den umstrittenen, verpönten und lange Zeit unterdrückten Schriftstellern der UdSSR. Sein Leben war legendenumwoben. So wurde behauptet, er habe wegen des Mordes an seiner ersten Frau Zwangsarbeit in Sibirien leisten müssen bzw. seine Schriften stammten von einem englischen Kapitän, den Grin ermordet habe, um die Manuskripte aus dessen Seemannskiste übersetzen zu können und als sein Werk auszugeben. Diese Gerüchte, denen der schweigsame Grin niemals widersprach, beruhen auf dem erstaunlichen Faktum, daß sein Werk kaum etwas von der sozialen und politischen Umwälzung in Russland zwischen 1900 und 1920 widerspiegelt. Die jüngst erfolgte Rehabilitierung und Wiederentdeckung dieses extrem untypischen russischen Autors phantastisch-visionärer Erzählungen brachte auch die bemerkenswerte, düstere Lebensgeschichte Grins ans Licht.

Alexander S. Grinewski wurde am 23. August 1880 in der kleinen sibirischen Stadt Slobodskoj, 20 Meilen östlich von Vjatka, geboren. Sein Vater, Stefan Grinewski, war Pole; wegen Beteiligung an einem Aufstand war er nach Sibirien verbannt worden; dort heiratete er 1872 die ortsansässige Anna Lepkova; als Brauereiangestellter und Buchhalter in einem Krankenhaus fristete der dem Trunk ergebene Vater sein Leben; er starb 1913. Alexander erhielt seinen ersten Unterricht zuhause. Früh begann er zu lesen, und seine Lieblingslektüre waren romantische Abenteuerstoffe von Mayne Reid, Rider Haggard, Jules Verne und James Fenimore Cooper. Ab 1889 besuchte er das Gymnasium von Vjatka. Wegen eines Spottgedichts und seiner schlechten Führung wurde er 1892 endgültig ausgeschlossen und mußte nun die Volksschule besuchen. 1894, Alexander war gerade 13, starb seine Mutter an Schwindsucht; sie war 37 Jahre alt geworden. Sie hinterließ drei Töchter und einen Sohn neben Alexander. Der Vater heiratete bald darauf erneut. Die zweite Frau, eine Witwe mit einem neunjährigen Sohn, brachte Alexander wenig Sympathie entgegen.

Nach Abschluß der Schule machte er sich, abgestoßen vom eintönigen Leben in Vjatka, auf den Weg nach Odessa, um Matrose zu werden. Die Taschen leer, doch den Kopf voller exotischer Phantasien heuerte er nacheinander auf mehreren Schiffen an, wurde jedoch wegen seiner Aufsässigkeit stets wieder entlassen. Desillusioniert kehrte er 1897 zu fuß und halb verhungert nach Vjatka zurück. 1898 brach er, schier erstickt von Vjatka, nach dem südlichen Baku auf, wo er sich mit Gelegenheits-arbeiten durchschlug, wenn er nicht gezwungen war, auf der Straße zu betteln. Die Winternächte, hungrig und verfroren im fallenden Schnee verbracht, die Malaria, die er sich dort zuzog, sowie seine Erfahrungen mit allerlei Straßengesindel gingen an die Grenze des Erträglichen und untergruben seine Gesundheit dauerhaft. Weitere Fehlschläge, einen Broterwerb zu finden, erlebte er als Goldgräber am Ural, als Eisengießer, Flößer und Holzfäller. 1902, wieder stellungslos, meldete er sich zur Armee, von der er nach weniger als einem Jahr nach einem mißglückten Fluchtversuch desertierte. Um diese Zeit schloß er sich den „Sozialrevolutionären" an, einer linksgerichteten Geheimpartei, die ihn mit Geld und einem falschen Paß versah. Für sie betrieb er in Odessa und Sewastopol Propaganda unter Seeleuten und Soldaten, was schließlich zu seiner Verhaftung führte. Nach zwei Jahren Gefängnis wurde er im November 1905 unter einer Amnestie freigelassen. In Petersburg traf er Ekaterina Bibergal, eine Sozialrevolutionärin, in die er sich in Sewastopol verliebt hatte. Als sie ablehnte, ihn zu heiraten, weil sein Glaube an die revolutionäre Idee zu schwach sei, zog er eine Pistole und schoß sie in die Seite. Zum Glück war die Wunde nicht gefährlich, und sie erholte sich schnell; doch trotz aller Entschuldigungen Grins fand ihre Beziehung damit ein abruptes Ende.

Schon im Januar 1906 wurde er in Petersburg während einer Polizeirazzia erneut unter falschem Namen verhaftet. Im Gefängnis traf er auf seine zukünftige Ehefrau Vera Pawlowna Abramowa (1882-1951), die für das Politische Rote Kreuz arbeitete. Im Mai 1906 wurde Grin ohne Gerichtsurteil  für vier Jahre nach Sibirien verbannt. Indes gelang es ihm, mit Hilfe der Sozialrevolutionäre zu entfliehen. Im selben Jahr in Moskau veröffentlichte er seine erste Erzählung, ein politisches Pamphlet im Auftrag der Sozialrevolutionäre. Ein Besuch bei seinem Vater in Vjatka diente dazu, eine neue Identität zu erwerben; sein Vater stahl die Papiere eines gerade verstorbenen Patienten des Krankenhauses, in dem er damals angestellt war. Als Malginow kehrte er nach Petersburg zurück, wo er weitere Pamphlete für die Sozialrevolutionäre verfaßte. Er zog mit Verna Pawlowna zusammen, ohne daß das Paar heiratete. Grins illegaler Status stand dem entgegen.

1908 erschien sein erster Erzählband »Die Tarnkappe. Geschichten von Revolutionären«, er enthielt die Arbeiten, die er 1906 und 1907 für die Sozialrevolutionäre verfaßt hatte. Bei Erscheinen des Bandes hatte sich Grin schon von den Revolutionsaktisten abgewandt und verkehrte in Petersburger Bohémekreisen, wo er Autoren wie A. Kuprin und L. Andrejew kennenlernte. Er begann zu trinken und verschwand oft für Tage. 1909 erschien seine erste exotische Geschichte „Die Insel Reno". (Der Matrose Tart desertiert von seinem Schiff auf eine unbewohnte tropische Insel, deren fremde Schönheit ihn berauscht. Der Aufstand des Einzelnen endet tragisch. Tart wird von der Besatzung getötet.) In dieser Geschichte verdeutlicht sich Grins wahre Neigung zu psychologisch fein gezeichneten Bildern in fremdartigen Rahmen, die in den zwanziger Jahren zur Meisterschaft reifte.

Doch vorerst setzte sich Grins Leidensweg fort: Im Juli 1910 wurde er von einem Freund verraten und als entflohener Verbannter verhaftet. In einer Bittschrift an den Zaren erklärte er, er habe seine politischen Ansichten radikal geändert, und nachdem seine Gesundheit ruiniert sei, wolle er nur ein ruhiges Leben im Kreis der Familie führen und sich ganz der Literatur widmen. Für seine nun gefundene Rolle als Literat war Grin bereit Opfer zu bringen. Trotz der Bittschrift wurde er zu zwei Jahren Verbannung in Archangelsk verurteilt. Grin und Vera Pawlowna heirateten noch am 24. Oktober 1910 in der Gefängniskirche zu Petersburg; eine Woche später fuhr das Paar nach Archangelsk. Nach dem zügellosen Leben in Petersburg trat nun eine ruhigere Phase ein; Grin trank nur wenig, las und schrieb viel, und als Jäger und Fischer erkundete er die unberührten Wälder und zahllosen Seen um seinen Exilort. Im Mai 1912 kehrten Grin und seine Frau nach Petersburg zurück. Seine Trunksucht nahm nun exzessive Formen an. Bei seinen seltenen Aufenthalten zuhause war er düster und gleichgültig, so daß der Bruch unvermeidlich wurde. 1913 verließ ihn seine Frau; die Ehe wurde erst 1920 geschieden. Die Trennung verursachte dem sensiblen Autor unsäglichen Schmerz. Er flüchtete sich in alkoholische Exzesse, erkannte aber bald den elenden Zustand seines Körpers und begab sich in ein Heim, um durch Hypnose-Behandlung den Alkoholismus zu überwinden. Der Versuch blieb ohne Ergebnis. Während des Weltkrieges schrieb er eine Unzahl von Gedichten und Novellen, die, meist zum Broterwerb bestimmt, der damaligen chauvinistischen, antideutschen Stimmung Rechnung trugen und über ein mittelmäßiges Niveau nicht hinausreichten. Doch Erzählungen wie »Der schwarze Diamant« und »Das Labyrinth« belegen, daß der unzufriedene Grin sein künstlerisches Ziel nicht aus den Augen verlor. Aufgrund einer respektlosen Bemerkung über den Zaren wurde er zum wiederholten Male verbannt und kehrte erst nach der Februarrevolution nach Petrograd zurück. Der Hang zum Trinken war ihm geblieben. Er schlug sich recht dürftig mit vereinzelten Zeitschriftenartikeln durch, bis er im Sommer 1919 zur Roten Armee eingezogen wurde. Seine Abneigung gegen Militär und Disziplin war auch in der neuen Gesellschaftsordnung ungebrochen, und er spielte erneut mit dem Gedanken zu desertieren, wurde aber vorzeitig wegen Verdacht auf Tuberkulose entlassen. In seinem Handgepäck befand sich sein Lieblingsprojekt, das Manuskript »Rote Segel«, das seine Anerkennung als Schriftsteller bald begründen sollte.

Nach kurzem Krankenhausaufenthalt ermöglichte der Schriftsteller Maxim Gorki seinem Protegé Grin, in das »Haus der Künste« aufgenommen zu werden, einem der literarischen Brennpunkte Petrograds, wo regelmäßig Dichterlesungen und Diskussionen stattfanden. Neben der Unterkunft verschaffte Gorki dem unbekannten Autor auch Aufträge sowie eine Lebensmittelunterstützung. Die freundschaftliche Bindung zwischen den beiden hielt an bis zu Grins Tod.

Im Mai 1921 heiratete Grin Nina Nikolaevna Koroschkowa (1894–1970). Diese Ehe brachte den Wendepunkt in Grins literarischer Karriere. Das Verständnis und die Selbstaufopferung, die seine zweite Frau in die Ehe einbrachte, halfen, die vielen unausgereiften Projekte, die in Grins Kopf seit Jahren herumspukten, in literarische Form zu gießen. Das ruhige, wenn auch ärmliche Leben, das nun folgte, ließ seinem dichterischen Talent Zeit, sich voll zu entfalten. 1924 zog das Ehepaar nach Feodosija auf der Krim, wo sie bis 1930 sehr zurückgezogen lebten. Die letzten zwei Jahre verbrachte der von Erfolglosigkeit Deprimierte auf Anraten der Ärzte im nahegelegenen Staryi Krym. Hier starb er, scheinbar vergessen, am 8. August 1932 an Lungenkrebs.

Grins erstes größeres Prosawerk Das Purpursegel entstand zwischen 1919 und 1921 und wurde 1923 veröffentlicht. Es erzählt von Assol, einem Mädchen aus einem elenden Fischerdorf, die auf ihren erträumten Geliebten wartet, der nach einer Voraussage eines einst im Wald getroffenen Märchenerzählers auf einem Schiff mit purpurnen Segeln kommen wird. Alle lachen sie aus, halten sie für verrückt, aber der Traum geht in Erfüllung, das Schiff mit den purpurnen Segeln landet, weil der Mann, den Assol liebgewonnen hat, die schöpferische Kraft von Beschwörungen versteht. Die Geschichte spielt im subtropischen »Grinlandia«, einer Schöpfung des Autors, in der fast alle seine Erzählungen spielen. Diese romantische Welt bildet die Plattform für Grins Helden auf der Jagd nach dem Unerfüllbaren. Die Städte Poket, Liss, Gel-Gju, Cordon-Brun, Surbagan tragen ebenso sonderbare Namen wie die Menschen: Tirrey Davenant, Fakreged, Sters, Tart, Gnor, Letika. Für Grin lag im erfundenen Namen das innere Gesicht der Person verborgen; die Melodik des Namens war ihm sehr wichtig.

In Grins zweitem Roman Die funkelnde Welt (1923), seinem bedeutsamsten, erzählt er, wie Drood, ein Mann, der die wunderbare Fähigkeit zu fliegen besitzt, vom Staat deswegen verfolgt und eingesperrt wird. Seine Flucht wird von Runa Beguem, einer vermögenden und einflußreichen jungen Frau eingefädelt, die mit seiner Hilfe die Weltherrschaft zu gewinnen hofft. Aber als Drood ihre Pläne verwirft, wird sie sein unversöhnlicher Feind. Nach kurzem Glück mit dem Mädchen Tavi Tum, deren Herzensreinheit die selbstlosen Ziele Droods versteht, wird der Held am Ende zerstört, als er ohne ersichtlichen Grund plötzlich abstürzt. Grins tiefer Glaube, der Mensch könne ohne künstliche Hilfsmittel fliegen, beruht auf seinen Träumen. Er glaubte, der Flug des Schläfers sei eine Rückerinnerung an ein heute verkümmertes Talent, die Entwicklung der Luftfahrt sei ein Drang, die verlorengegangene Fähigkeit des Fliegens zurückzugewinnen. Daher gibt er auch keine Erklärung für Droods außergewöhnliche Fähigkeit. Der Flug ist ein poetisches Symbol, die physische Manifestation des Schwebens eines Geistes. Der fatale Schluß bezeugt Grins Einschätzung, wie ungleich er den Kampf zwischen kreativer Phantasie und steriler Realität ansieht.

Sein dritter Roman Die goldene Kette (1925) erinnert hauptsächlich an die konventionelle romantische Abenteuergeschichte mit der üblichen schwarzweißen Charakterzeichnung. Er beschreibt die Seereise des jungen Sandy, bei der er den Millionär Ganouver vor den erpresserischen Anschlägen zweier Schurken retten kann. Ein bombastisches Traumschloß mit Marmorsäulen, vergoldeten Spiegeln und verschwenderischer Ausstattung bildet den Hintergrund dieser unwahrscheinlichen Geschichte.

Der vierte Roman Wogengleiter (1928) beschäftigt sich wieder mit dem Außergewöhnlichen, der Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Der Held, Thomas Harvey, fühlt den instinktiven Wunsch, auf einem zufällig entdeckten Schiff namens Wogengleiter eine Reise zu machen. Während der Reise gerät er in Streit mit dem Kapitän, der ohn in einem kleinen Boot aussetzt. Doch die legendäre Fresi Grant, ein Schutzgeist, der über die Wellen geht, rettet ihn. Im weiteren Verlauf wird er mit zwei Frauen konfrontiert, der weltlichen Bice und der arglosen, vertrauensvollen Desi. Während die nüchterne Bice Harveys Begegnung mit Fresi Grant bestreitet, verletzt sie sein individuelles Recht, zu sehen und zu glauben, was er wünscht, und Harvey entscheidet sich für Desi, die an die Wahrheit von Fabeln und Legenden glaubt. Die Wogengleiterin Fresi Grant steht als Verkörperung des Traums und des Unerfüllbaren.

Jessy und Morgiana (1929) ist untypisch für Grin, da der Roman ohne dessen ideelle Weltanschauung einfach das Aufeinanderprallen von Gut und Böse schildert; die junge und schöne Jessy wird von ihrer monströs häßlichen und bösen älteren Schwester Morgiana mit einem langsam wirkenden Toxin vergiftet. Das Verbrechen wird entdeckt, bevor es zu spät ist, und Morgiana erhängt sich.

Sein sechster und letzter Roman Der silberne Talisman (»Der Weg nach nirgendwo« lautet die Übersetzung des russischen Originals) erschien 1930 — der später begonnene Roman Die Mimose blieb nur ein Fragment. Grins Verbitterung über den ausbleibenden Erfolg und den eigenen, dem Tod entgegensiechenden Körper floß in diesen pessimistischen Roman mit ein. In der Ausmalung seiner imaginären Geographie und der Fülle der Charaktere ist dieser Roman reicher als seine Vorgänger. Der junge Tirrey Davenant scheint in Poket durch die Hilfe einflußreicher Freunde sein Glück zu machen; jedoch seine Träume zerrinnen; er wird nach einer Schießerei festgenommen und stirbt im Gefängnis an einer Schußverletzung, noch bevor ihn seine Freunde befreien können. Hinter der abenteuerlichen Handlung verbirgt sich eine Botschaft, des Träumers Davenant Unfähigkeit, durch eigene Kraft das Glück zu gewinnen. »… die Stärke Alexander Grins liegt nicht im Aufbau der Handlung. Einzelheiten der Handlung können einem entfallen, aber Davenant, Galeran und Consuela zu vergessen — das ist einfach unmöglich.« So urteilt W. I. Dmitrewki über den letzten Roman.

Aus der Vielzahl seiner phantastischen Novellen ragen drei heraus, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. »Der Rattenfänger« (1924) hat das Aufkommen einer Organisation menschlicher Ratten zum Inhalt. Die Ratten signalisieren Gefahr; sie vermögen jede Gestalt anzunehmen, um ihre Feinde zu täuschen; sie verfolgen den Erzähler in einer Welt der Fieberphantasien. Doch in dieser, Grins Welt, kann auch ein totes Telefon klingeln, aus dem man die Stimme der Liebsten vernimmt, wenn nur der Wunsch danach stark genug ist.
In »Das graue Automobil« (1925) werden die Gefahren und die Nutzlosigkeit technischen Fortschritts angeprangert:

»Die Diskussionsscheibe ist die Zeit, die Bewegung des Lebens und das Zentrum die Wahrheit, die vernunftbegabten Wesen aber sind die Menschen. Je näher dem Zentrum, desto langsamer ist die Bewegung; der Zeit nach aber entspricht sie der Bewegung der Punkte auf der äußeren Kreislinie, erreicht folglich das Ziel in einem weitaus geringeren Tempo, ohne das allgemeine Tempo zum Erreichen dieses Ziels, das heißt die kreisförmige Rückkehr zum Ausgangspunkt, zu beeinträchtigen.
Auf der äußeren Kreisbahn beschreibt das falsche Leben, kreischend und knatternd, als würde es alle inneren, alle dem Zentrum näheren Existenzen überholen, doch in fataler Weise gleichzeitig mit ihnen, seine rasenden Runden, steckt die Menschen der kleineren Kreise mit jenem fieberhaften Überdruß an, der in ihm ist, und stört durch die dröhnende Bewegung, die von der Wahrheit unendlich weit entfernt ist, immer entscheidender ihren ruhigen inneren Rhythmus. Dieser Eindruck von fieberhaftem Glanz, von scheinbar vollkommenem Glück ist seinem Wesen nach die Qual der ekstatischen Bewegung, die um das Ziel herumrast, aber weit, sehr weit von den Menschen entfernt ist. Und die Schwachen, die mir gleichen, müssen ungeachtet dessen, wie nah sie dem Zentrum sein mögen, diesen äußeren Wirbelsturm sinnloser Hast in sich tragen, nach dem nur Leere zurückbleibt.« (Der Fandango, S. 188)

Die Geschichte beschreibt den Weg des unglücklichen Helden in eine Heilanstalt, der von einem mysteriösen Automobil verfolgt wird und dessen Freundin sich als Wachsfigur entlarvt.
»Fandango« (1927) schafft eine Verbindung zwischen dem phantastischen Grinlandia und der klirrenden Kälte Petrograds, wenn der Ich-Erzähler mit Hilfe eines magischen Kristalls wie durch eine Tür in Grinlandia eintritt und dort den Geisterfürsten Bam-Grand trifft, der in Petrograd als kubanischer Delegationsleiter auftritt. Das Ineinanderfließen von Traumwelt und Alltagswelt strahlt eine seltene Faszination aus.
Die Phantasien Alexander Grins haben keine Nachfolger gefunden. Obwohl seine Werke dem großen Spektrum der heute so populären »Fantasy« zuzuordnen sind, obwohl er eine imaginäre Welt schuf, wie dies auch bei modernen Autoren des Genres üblich ist, sein unbedingter Wille und Glaube an die Verwirklichung des Nicht-Zu-Verwirklichenden machen seine Sonderstellung in der Literatur Russlands wie auch in der gesamten phantastischen Literatur aus. Grin wehrte sich übrigens entschieden dagegen, wenn seine Werke als phantastisch eingestuft wurden. Er wollte sie symbolisch verstanden wissen. Zur Fremdartigkeit der Menschen und Länder im mythischen Grinlandia sagte er:

»Ich beschreibe, was ich sehe. Wenn die Leute lesen, was ich geschrieben habe, erscheint es ihnen, als sei es in einem fremden, unbekannten Land. Aber es ist hier, ganz nah vor meinen Augen und meiner Seele. Und mit allem anderen verhält es sich genauso. Worauf es ankommt, ist, wie du es betrachtest. Meine Augen und Sinne empfinden es auf eine Weise, die andere nicht bemerken, und darum scheint es nicht hierher zu gehören. Und meine Charaktere, ebenfalls ohne das obligatorische Lokalkolorit, scheinen nicht herzupassen, aber sie sind die ganze Zeit um uns herum. Ich sehe sie, fühle und beschreibe in Gänze ihre Emotionen, Wünsche und Erfahrungen, ungetrübt von Details aus dem alltäglichen Leben, der Politik oder anderem. Sie leben, leiden, sind glücklich und bewegen den Leser.«

W. I. Dmitrewski stellte ihn Poe gegenüber und bemerkte: »Auch Alexander Grin verfügte über einen solchen Zauberstab, mit dessen Hilfe er die unwahrscheinlichsten, phantastischsten Dinge glaubhaft machte und ihnen gleichsam greifbare Form verlieh.«

Nachdem man ihn jahrzehntelang als Plagiator und unrussischen Epigonen abqualifizierte, vergleicht man seine humanistischen Dichtungen heute mit den Bildern von George Grosz und Oskar Kokoschka und rückt ihn in die Nähe von Franz Kafka, Albert Camus und Thomas Mann.

Sein Werk wurde in Russland nach seinem Tod sehr populär und erfährt immer wieder Millionen-auflagen. Übersetzungen seiner Werke ins Englische oder andere europäische Sprachen hat es kaum gegeben — mit einer Ausnahme: der Übersetzungen ins Deutsche. Hauptsächlich in der DDR wurden alle seine Romane und mehrere Erzählungsbände veröffentlicht. Nach dem Zusammenschluß mit der BRD fand diese rege Publikationstätigkeit ein jähes Ende.

Sekundärliteratur zu Alexander Grin außerhalb Russlands ist schwer zu finden. Aufschlußreich über Biographie und Werk sind folgende Werke von Nicholas Luker:
Alexander Grin: The Forgotten Visionary, Newtonville, Mass. 1980, Oriental Research Partners
Alexander Grin, Letchworth, Hertfordshire 1983, Bradda Books

Die Romane in deutscher Sprache

Das Purpursegel. Eine Feerie
Berlin: SWA Verlag 1946
Nachdrucke erschienen in der Insel-Bücherei, im Arena-Verlag, im Unionsverlag und bei LKG

Die funkelnde Welt
Berlin: Volk und Welt 1988
Ein Nachdruck erschien bei Klett-Cotta

Die goldene Kette
Weimar: Gustav Kiepenheuer 1964
Nachdrucke erschienen bei Verlag der Nation und Verlag Neues Leben

Wogengleiter
Rudolstadt: Greifenverlag 1949
Ein Nachdruck erschien beim Suhrkamp Verlag

Jessy und Morgiana
Weimar: Gustav Kiepenheuer 1967
Ein Nachdruck erschien beim Verlag Volk und Welt

Der silberne Talisman
Weimar: Gustav Kiepenheuer 1962
Es erschienen keine Nachdrucke

Die Erzählungsbände in deutscher Sprache

Rote Segel
Rudolstadt: Greifenverlag 1962
Inhalt: Kapitän Duke; Rote Segel; Der redselige Hausgeist; Vierzehn Fuß; Stimme und Augen; Das Aquarell; Schiffe in Liss; Der Hafenkommandant.

Die purpurroten Segel
Frankfurt am Main: Possev Verlag 1967
Inhalt: Die purpurroten Segel; Der Schandpfahl; Der rastlose Hausgeist; Das Aquarell; Der Zorn des Vaters; Der Hafenkapitän.

Der Rattenfänger
Berlin: Verlag Volk und Welt 1984
Inhalt: Die zurückgegebene Hölle; Die vergiftete Insel; Der schwarze Diamant; Feuer und Wasser; Die Schöpfung Aspers; Schiffe in Liss; Die Macht des Unfaßbaren; Herr der Wildnis; Ein geschwätziger Hausgeist; Die Weide; Der Rattenfänger; Das graue Automobil; Glenaus Kinderfrau; Die Schlange; Fandango; Das Aquarell; Die Samtportiere; Der Dieb im Wald; Der Hafenkommandant.
Nachdrucke erschienen im Buchclub 65 und beim Suhrkamp Verlag

Der Fandango
Weimar: Gustav Kiepenheuer 1984
Inhalt: Das Seil; Das Neujahrsfest eines Vaters und seiner kleinen Tochter; Die Weide; Die Heimkehr; Der Rattenfänger; Der Sieger; Renee; Das graue Automobil; Die Privataudienz; Die Schlange; Der Fandango; Das Aquarell; Vaters Zorn.

Der Mord im Fischladen. Rätselhafte Geschichten
Berlin: Verlag Volk und Welt 1989
Inhalt: Der Vorfall in der Köterstraße; Der Zyklon in der Regenebene; Der Schandpfahl; Mondlicht; Die Pfütze des bärtigen Schweins; Das Rätsel des vorausgesehenen Todes; Die Reueschrift; In der Nacht und am Tage; Der Weg; Der Mord im Fischladen; Die geheimnisvolle Schallplatte; Die Kraft des Unfaßbaren; Erna; Der Mord im Vorort Kunstfisch; Die Ehe des August Esborne; Die Wette.
Die schönste Ausgabe Alexander Grins in der DDR erschien zum Schluß. Der großformatige Band wurde mit eindrücklichen Illustrationen ausgestattet und auf gutes Papier gedruckt.

© 2020 Robert N. Bloch